05.08.2007
Als die Kellnerinnen schon alles um uns herum weggeräumt hatten und uns verzweifelte Blicke zuwarfen, gab ich mir einen Ruck. Es war 12 Uhr nachts.
Ich ließ meine Freundinnen hinter mir, zog meinen Mantel an, dann meinen Schal und ging raus.

Die Stadt sah umwerfend aus und ich berührte im Vorbeigehen alle Zäune, um sicher zu gehen, dass alles real ist. Als ich mir die Finger an einen Holzzaun zerfetzte, gab ich auf.
Die Straßen waren leer.

Dann und wann fuhr langsam ein Auto vorbei, hielt an der Kreuzung und fuhr dann sachte weiter, auf der nassen Fahrbahn gleitend. Ich hatte das Gefühl ich würde mich auf einer Anhöhe befinden und würde von dort aus die Welt betrachten. Ich war unerreichbar, allem überlegen und alles war genauso, wie es zu sein bestimmt war.

Die Kreuzung mit der aussetzenden Ampel und die schweigsame Kirche, die ihre Türme über die niedrigen Gebäude überlegen erhob, schien sich immer weiter zu entfernen. Ich lächelte.

Die einzige Aufgabe auf der Welt, die meine Gedanken beschäftigte war, mich der Kreuzung zu nähern, dann rechts abzubiegen und dann in Richtung des Friedhofs nahe meiner Wohnung zu steuern. Ich konnte an nichts anderes denken. Es gab nur die Nacht, die Kühle und der Regen.
Sie waren meine engsten Freunde, anwesend um zu überwachen. Ich hätte für Stunden leise der Straße folgend weitergehen können, die tagsüber banal und funktional aussah. Tagsüber hätte sie nicht mal die Hälfte der Empfindungen in mir erweckt, die ich jetzt wahrnahm.

Dann, etwas Unerwartetes beendete diesen ansteigenden Emotionsfluss. Eine Silhouette in der Dunkelheit. Am Anfang einer schmalen Straße sah ich einen sehr großen Mann, schwarz gekleidet, der unter seinem geschlossenen Ledermantel ein Baby eng an seiner Brust trug. Man sah nur das blonde Köpfchen des Kindes im Regen entblößt. Der Mann suchte etwas auf dem Boden.

Vor sehr langer Zeit in einer ähnlichen Nacht wartete ich an der Haltestelle auf den Bus, in einer genauso leer gefegten Stadt, zusammen mit einer weinenden jungen Frau. Ich kannte sie nicht. Ich hatte sie noch nie im Leben gesehen. Sie stand zwei Schritte von mir entfernt und weinte hemmungslos.
Ich träumte jahrelang von ihr und wurde brutal mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen nach diesem Traum. Warum hatte ich sie nicht gefragt, warum sie weinte? Warum hatte ich sie nicht gefragt, ob ich ihr helfen kann?

"Kann ich Ihnen helfen?"

Der Mann fuhr zusammen, als er mich sah. Vielleicht war er zu beschäftigt gewesen und sah mich nicht näher kommen.
"Weiß ich nicht", sagte er.

Seine Stimme klang verloren auf der leeren Straße und glitt von der Gravitation angezogen nach unten in Richtung des nassen Bürgersteigs.

"Ich hatte in der Jackentasche nach einem Taschentuch gesucht", fuhr er fort, "und hörte dann meinen Schlüssel fallen. Wenn du so nett wärest..."

Ich blickte nach unten. Es war der Regen, der Straßenasphalt sah aus wie die runzelige Haut eines riesigen dunkelgrauen Körpers, des Körpers einer eingeschlafenen Stadt.

"Nehmt meinen Regenschirm", sagte ich mit ausgestrecktem Arm. "Das Mädchen wird sonst krank."
"Der Junge. Es ist ein Junge."
"Der Junge", nuschelte ich.
"Mein Sohn, Gabriel."

Ich bückte mich unter dem Regenvorhang, der jetzt auf meine Schultern, auf meine Haare und auf mein Gesicht prallte. Aber ich konnte trotzdem nichts erkennen. Ich dachte, vielleicht ist er in Richtung der Bordsteinkante gefallen und der tückische Schatten, entstanden durch den Höhenunterschied, konnte dieses kleine Stück Metall, das ich suchte, verbergen. Ich näherte mich der Bordsteinkante und ging in die Hocke. Ich fing an, mit den Händen um den Bordstein herumzutasten. Ich hatte eisige Finger und das nass-kalte Gefühl, als ich den Boden berührte, war seltsam. Ich spürte, dass meine Ärmel nass wurden und meine Haare an meinem Gesicht klebten so, als ob sie eine andere Gegenstandsform angenommen hatten.

Auf einmal begriff ich, was ich tue, dass ich den Boden auf einer leeren Straße abtastete, neben einem sehr großen Mann, der sein Kind mit beiden Händen festhielt und mich von oben betrachtete.

Dann tat er etwas Merkwürdiges. Ich ahnte die Bewegung konnte sie aber nicht stoppen. Er hob seinen Fuß und setzte seine Fußsohle auf meiner Hand. Die, die ich mir vorhin verletzt hatte.
"Was machen Sie?!", schrie ich.

Keine Antwort.

"Es tut weh!"

Ich schaute ihn an, konnte aber nichts erkennen. Sein Antlitz war von der Dunkelheit geschützt. Das schwache Licht der Straßenbeleuchtung, das sich bis zu uns durchgekämpft hatte, lies gerade mal die Konturen seiner Silhouette erahnen.

"Es tut weh!", schrie ich noch lauter.

Jetzt entfernte er seinen Fuß. Einen Moment lang blickte er mich an, dann drehte er sich um und ging. Ich bewegte mich nicht vom Fleck. Ich blieb dort mit den Armen zusammengeschränkt zwischen Knie und Brust und wartete ab, bis er sich entfernt hatte.

Als ich sah, dass er nach links gegangen war, stand ich auf und ging los. An der Kreuzung angekommen, guckte ich verängstigt in der Richtung, in der er gegangen war. Er wartete nicht dort auf mich. Die Straße war leer. Mitten auf der Fahrbahn lag mein Regenschirm.

Mein erster Impuls war ihn mir zurückzuholen. Ich machte ein Paar Schritte dann tauchte, wie aus dem Nichts ein Auto um die Ecke und hupte. Weil es erst ein Bogen um mich herumfahren musste, traf es den Regenschirm. Der Regenschirm war gebogen aber noch nicht ruiniert. Als der Wagen vorbeigefahren war, machte ich ein Paar weitere Schritte. Einen Windstoß bewegte mein Regenschirm noch weiter fort Richtung Kreuzungsmitte.

Ich hielt inne und schaute ihm nach.

Ich fühlte die Dunkelheit, wie sie sich um mich herum zusammendrückte, wie sie sich in einen Bruchteil einer Sekunde verdichtete, wie eine Warnung, als ob die halbe Stadt, abrupt wie auf Befehl alle Lichter ausschaltete. Ich schaute weiterhin dem Gegenstand nach, der mir gehörte und suchte nach einem vernünftigen Grund, um ihn dort liegen zu lassen. Ich fand keinen. Und dennoch besaß ich nicht den Mut, um noch einen einzigen weiteren Schritt zu machen. Ich steckte meine Hände tief in die Taschen und hob meinen Kopf, um zu spüren, wie der Regen auf meinem Gesicht niedergleitet.

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