16.03.2012
Sie fühlt sich angeekelt, als sie ihn an der Tür stehen sieht. Er trägt ein kariertes Hemd. Eine Ecke seines Hemdes hängt aus seiner Hose raus. An seinem linken Arm, in dem er seine Werkzeugtasche hält, kann man seine geschwollenen Venen erkennen. Sein riesiges Handgelenk endet in einer großen Hand, die Hand eines Mannes, der an körperliche Arbeit gewöhnt ist.

Er nimmt ihre Überraschung und ihren Ärger bei seinem Anblick als ein positives Gefühl ihm gegenüber wahr. Er wusste es! Er spürt, wie eine Flammenwelle seinen Magen überschwemmt und das nicht unbedingt im positiven Sinne. Das hält ihn bewegungsunfähig, bis das Mädchen mit resignierter Stimme sagt:
"Reinkommen!"

Der Mann zieht seine Schuhe aus und geht den Flur entlang. Das Mädchen führt ihn in die Küche.
"Habe ich dich gestört?", frägt der Mann, als ihm plötzlich etwas bewusst wird. Als er vor ein paar Monaten die Gardinenstange zusammenbaute war das Haus sauber, jetzt sah es so aus, als würde man niemanden erwarten.
"Nein, ich habe auf dich gewartet", lügt das Mädchen mit einem verkrampften Lächeln, welches sofort verschwindet. Wie zum Teufel hatte er es geschafft, den heutigen Termin zu vergessen? Er hätte schon um neun Uhr zu ihr kommen sollen. Na klar.

Er sieht sie an. Diese Feuerwelle bringt ihn wieder auf den Boden, diese unnatürliche, negative Emotion brennt sich in seinen Magen. Was will sie von ihm? Sie hat sich geschminkt, ihre Augenränder sind schwarz und ihre Lippen rot. Er kann ihr nichts bieten. Sie ist ein junges Mädchen, er ist ein gebrochener Mann. Sie trägt lederne Leggins, ist Barfuß und er übersieht nicht die Tatsache, dass der rote Nagellack ungleichmäßig aufgetragen ist. Aber die Fingernägel sind einwandfrei aufgemalt. Lang, rot, mit perfekter Form. Warum will sie sowas?

Das Mädchen schaut auf die Uhr und sieht ihn an.
"Wie lange wird es wohl dauern, das Leck im Abflussrohr zu reparieren?"
"Ich weiß nicht. Ich muss erst nachsehen, worum es geht."

Das Mädchen öffnet die Tür des Schranks, in dem sich das Waschbecken befindet, und holt die beiden Mülleimer heraus. Dann die Waschmittel und einen kleinen Besen mit einer Schaufel. Die Schranktür ist mit Speiseresten befleckt und riecht im Inneren äußerst unangenehm.

Schmutz klebt an der Tür und niemand macht sich die Mühe es ab zu wischen.
"Willst du ein Bier?"
"Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob es angemessen ist."

Das Mädchen öffnet ein Bier und gibt es ihm. Plötzlich streckt er seinen Arm in einer Geste aus, dass er entspannt und männlich und nachlässig sein will und so viele andere Dinge zusammen, so dass er versehentlich ihre Finger berührt und das Mädchen ihn mit einem kurzen Blick erschießt. Peinlich berührt will er einfach nur noch verschwinden. Er hatte sich seit Jahrzehnten nicht mehr so verlegen und ungeschickt gefühlt. Er hat schon letztes Mal bemerkt, wie dieses Mädchen ihn ansieht und wusste selbst dann nicht, wie er reagieren soll.

Scheiße, sagt sich das Mädchen. Der Perverse kam hierher, um zu ficken. Sie studiert ihn, während er hockt und beobachtet, wie die Rohre herauskommen und in die Wand hinein- und herausgehen. Die Haut auf seinem Gesicht ist grau und dünn. Die Falten um seine Augen und das spärliche Haar auf seiner rosa, sommersprossigen Stirn, diese weichen Hände mit dem schlaffen Fleisch, trotz seiner Größe und seines Volumens. In den Mundwinkeln hat es einen feinen weißen Schaum, wie ein Sekret. Dunkelviolettes kariertes Hemd. Er scheint einen Geruch zu haben, etwas, das sie nicht beschreiben kann... ah... nasse Blätter. Ekelhaft.

Sie hatte einige Reime für seinen Sohn geschrieben, der vor einigen Monaten fünf geworden war, und er hatte ihren Vorhang als Gegenleistung repariert. So war es in ihrer Stadt. Es gibt diesen Zirkel von Leistungen und Gegenleistungen. Ich helfe dir, und du hilfst mir. Kostenlos. Service gegen Service. Zum Beispiel hat man Äpfel im Hof, weiß aber nicht, wie man einen Kuchen macht, ein anderer weiß, wie man massiert, braucht aber einen Babysitter für einen Abend. Oder er hat zu viel Marmelade und braucht die Hilfe eines Partners als Gegenleistung für die Mathenachhilfe seiner Tochter. Oder man wäscht Fenster gegen Französischunterricht. Ich koche für dich, du wäschst für mich.

Sie beobachtet ihn, wie er das Werkzeug anlegt. Klirren, Klirren, Metall auf Metall, seine Atmung. Das Mädchen holt ihr Handy aus der Gesäßtasche. Drei Nachrichten.
"Sicher, dass du nicht irgendwo sein musst?"
"Nein, nein."

Das Waschbecken ist voller Tellern mit Essensresten, Gläsern und Besteck. Was fragt er noch?! Wenn er sie dafür ficken will, stimmt sie zu. Wieder waschen zu können ist alles, was sie will. Um jeden Preis.
"Warum trägst du das um deinen Hals?", fragt er. "Es sieht aus wie ein Hundehalsband."

Sie antwortet nicht.
"Ist es die neueste Fabel der Rocker, oder was? Oder bist du Emo?"

Sie berührt instinktiv das Lederband um ihren Hals.
"Kannst du mir noch ein paar Gedichte schreiben?"
"Sicher, zu welchem Anlass?"
"Meine Mutter. Nächste Woche wird sie siebenundachtzig."

Sie schaut wieder auf die Uhr. Zumindest wurde die Situation geklärt. Er will nichts von ihr. Sie weiß nicht, wie sie reagiert hätte, wenn ein Mann sie berührt hätte.
"Was kannst du noch so machen?", fuhr der Mann fort, ohne sie anzusehen.
"Ich spiele Klavier."
"Verdienst du damit deinen Lebensunterhalt?"
"Ich verdiene meinen Lebensunterhalt mit nichts. Ich schlafe den ganzen Tag. Nachts gehe ich herum."

Er schweigt und durchsucht seine offene Tasche nach einem Schraubenschlüssel. Sie starrt ihn weiterhin an. Sie kann kein Mitgefühl für ihn empfinden. Nachdem sie vierzig werden, sehen die Menschen nicht mehr gut für sie aus, Körperformen sind nicht mehr so, wie sie sein sollten, alles sieht für sie so aus, wie etwas das sie auf keinen Fall sehen möchte. Vielleicht sogar früher, um dreißig. Sie ist einundzwanzig, dieser Mann wahrscheinlich fünfzig.
"Hast du dich für mich so geschminkt?"

Sie lacht genervt. Hier fängt es an. Sie weiß nicht, wie sie reagieren wird, wenn er sie berühren würde. Sie hat keine Ahnung. Sie hatte nie Sex im wahrsten Sinne des Wortes mit jemandem. Sie will nicht berührt werden. Sie will nicht wissen, wie Sex ist, Sie ist nicht neugierig. Und nicht mit diesem Mann. Er ist hässlich und alt und... verschwitzt. Warum schwitzt er so?

Er hört mit dem Arbeiten auf und trinkt ein halbes Bier auf einmal. Er lässt sich in die Hocke und dreht sich zu ihr um. Er sieht ihr direkt in die Augen. Sie schweigen beide.

Sie will von diesem Mann nicht berührt werden. Sie fängt an darüber nachzudenken wie groß die Wahrscheinlichkeit dafür wäre, dass er sie anfasst. Sie hatte gerade in einer Zeitung über einen 35-jährigen Mann gelesen, der nur zu zweieinhalb Jahren verurteilt wurde, nachdem er zwei Mädchen zwischen vier- bzw. sieben Jahren sexuell missbraucht hatte. Er streichelte sie im Schambereich und ließ sie ihn auch berühren. Er küsste sie dort und ließ sie ihn dann mündlich befriedigen. Er gab ihnen Alkohol. Er hatte sich von seiner Frau getrennt und das Sorgerecht geteilt. Dann missbrauchte er ihre Freundin, die Tochter seines besten Freundes, elf Jahre alt. Selbst als er einen Film sah, ließ er sich mündlich befriedigen. Und als er mit ihnen im Bett schlief, tat er andere Dinge. Aber er bekam nur zweieinhalb Jahre, er entkam leicht, die Menschen kommen leicht von etwas Weg. Oder derjenige, der kürzlich seine Frau und seine Kinder getötet hat. Das Land ist mit Verrückten übersät.

Dieser Mann hier fragt sie, ob sie sich für ihn geschminkt hat. Er kann zu alles fähig sein. Würde er sie schlagen? Würde er sie seiner sexuellen Perversionen aussetzen? Würde er ihr die Kehle durchschneiden?

Und sie hat eine Kette mit zwei Enden am Lederband um den Hals, die an ihren Nippelringen befestigt sind. Wenn sie wie heute Abend in den Club geht, zieht sie ein wenig an ihrer Kette, bis der Schmerz unerträglich wird. Sie macht viele brutale Dinge mit ihrem Körper. Aber das geht nur sie etwas an. Sie will nicht, dass er sie berührt, sie will nicht, dass er ihr Geheimnis herausfindet.
"Ich bin seit vier Jahren geschieden", sagt er.

Großartig, als wäre sie überhaupt daran interessiert! Sie nimmt einen Schluck aus ihrer Bierflasche.
"Ich war fünfzehn Jahre mit ihr zusammen. Sie war meine einzige Frau."

Das Mädchen zuckt mit den Schultern.
"Ich war seitdem nicht mehr mit einer Frau zusammen."
"War's das?!"

Er steht auf und dreht den Wasserhahn auf. "Tadaaaa...."
"Wann willst du das Gedicht? Ist es in Ordnung, wenn ich es dir morgen früh überreiche? Ich werde es dir per E-Mail schicken."

Er geht wieder auf die Knie und packt seine Sachen zusammen.

Ohne zu verstehen, warum sie einen solchen Impuls empfindet, tritt sie einen Schritt auf ihn zu und legt ihre Hand auf seinen Kopf.

Er fängt an zu weinen. Das Mädchen weiß nicht, was es tun soll. Sie möchte sich von ihm entfernen und bereut sofort ihre Geste, aber statt sich zurück zu ziehen klammern sich ihre Finger tiefer in seine Haare. Sie tut ihm weh, sie kann es spüren. Sie ist entsetzt über sich selbst, über diesen Mann, das Leben, die Welt. Für alles und jeden.
"Wie in etwa sollen die Texte klingen?"

Ihre Stimme zittert. Er kann nicht antworten. Sag irgendetwas, Christiane, frag etwas, sagt sie sich verlegen und möchte lieber verschwinden, schweig nicht, Christiane, sprich! Schweige nicht! Nicht diese Stille.

Eine schreckliche Stille wie der Tod, der von den Wänden tropft, aus den Poren der Dinge heraus, eine Stille, die mit den Geräuschen der Nachbarn pulsiert, und die gleichmäßige Stimme einer Frau, eines Autos welches gerade parkt, und ein ständiger Tropfen der aus dem Wasserhahn auf einen Teller mit übrig gebliebener Sauce, rot in ihrem Waschbecken, in ihrem Haus, in ihrer Stadt fällt... Ist sie verrückt geworden? Vielleicht sollte sie aufhören, Kokain zu nehmen. Vielleicht sollte sie aufhören, diesen fremden Mann, der sie vergewaltigen, schlagen, zerstückeln, foltern konnte, anzufassen. Er konnte mit ihr alles machen, jedoch hob er nicht mal seine Arme, um ihre Taille zu umschließen, so wie er kniend vor ihr sitzt. Sie spürt, wie seine Tränen auf ihren Zehenspitzen aufkommen. Was für eine schreckliche Show!
"War sie eine gute Mutter... deine Mutter? Wenn du immer noch willst, dass ich ihr Gedichte schreibe..."
"Nein, sie war schrecklich. Und das ist bis heute so geblieben", sagt der Mann und beginnt laut zu lachen.

Er steht auf, streicht sich mit der freien Hand die Hose sauber, fährt sich mit dem Arm über das Gesicht und geht denselben Weg wie den mit dem er hergekommen ist. An der Tür dreht er sich zu ihr um und sagt: "Egal was du brauchst, sag Bescheid. Du störst mich nie."

Dann, unfähig sich zu bewegen und versuchend sich an etwas festhalten zu können, fragt er sie:
"Wohin soll ich dich bringen?"
"Meine Freundin... Sie wartet in einem Club auf mich."
"Okay."

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