01.08.2008
Schreie aus der Nachbars Wohnung.

Ich weiß nicht, ob es die üblichen Schreie sind, mit denen wir leben müssen oder ob etwas passiert ist auf das ich reagieren sollte. In der obersten Schublade des Nachttisches habe ich die Polizeinummer, auf eine abgerissene Ecke einer Zeitschrift, kurz nach der Nacht, als die Nachbarin von oben von ihrem Ehemann geschlagen wurde, gekritzelt. Am nächsten Tag trug sie eine riesige Brille, die die blauen Flecken um ihre Augen nicht verbergen konnte, und saß so träge in der Sonne auf dem Balkon. Ich sagte ihr guten Morgen und sah sie aufmerksam an. Sie antwortete mir und fügte dann nichts hinzu. Später trennte sie sich von ihm.

In der Wohnung rechts, in der jetzt diese laute Stimme zu hören ist, lebt eine deutsche Frau in ihren Vierzigern. Sie fährt sehr früh am Morgen in ihrem dunkelblauen Auto zur Arbeit. Sie raucht viel im Garten, schweigend und macht kaum hörbare Geräusche. Manchmal räuspert sie sich, manchmal seufzt sie. Auf den Fliesen der kleinen Terrasse bewegt sich etwas, daher ist dies das einzige Zeichen für mich, dass sie da ist. Ich kann sie nicht sehen. Unsere Gärten sind durch eine Holzwand und durch hohe grüne Büsche getrennt.

Wir haben selten gesprochen. Wir haben uns selten getroffen. Ich bin eine zurückgezogene Person, und ich kann es nicht leiden, alle Phasen der Freundschaft durchlaufen zu müssen, also gab ich schnell auf, verärgert über die Dummheit des Dialogs zwischen uns. "Heute wird es regnen, aber in den kommenden Tagen..." Beide betrachteten eine riesige vogelförmige Wolke mit ausgestreckten Flügeln, die am Himmel schwebte.

Oh ja.

Sie ist sehr groß, hat ein maskuliner Körper Aufbau, breite Schultern, schmale Hüften, etwas zu muskulös. Sie hat ein sehr helles Gesicht, aber einen unlesbaren Ausdruck. Nach meinen osteuropäischen Maßstäben nicht durchdringbar. Ihr lockiges blondes Haar verleiht ihr jedoch ein unerwartet weibliches Aussehen. Etwas unangemessen.

Sie hat einen 10-jährigen farbigen Jungen.

Normalerweise höre ich sie ihm im Garten ein Buch vorlesen auf den quietschenden Sonnenliegen sitzen. Oder Badminton spielend und lachend. Sie streiten sich sehr oft, und genau das könnte es jetzt sein: ein neuer Streit. Vielleicht hat er seine Hausaufgaben für die Schule nicht gemacht, oder er will einen Ausflug machen, und sie lässt ihn nicht. Vielleicht will er einen neuen Nintendo. Vielleicht will er mehr Taschengeld. Oder vielleicht hat sie herausgefunden, dass er raucht. Oder vielleicht kam der schwarze Vater von irgendwoher und hatte Lust auf Skandal. Obwohl ich noch nie einen Mann in ihr Haus eintreten gesehen habe. Ich habe nie eine Männerstimme aus ihrem Haus vernommen.

Der Junge versucht sich immer durchzusetzen. Er erhebt seine Stimme, seine Argumente sind nicht gültig, also erhebt er seine Stimme ein wenig mehr, bis er schreit. Es ist sein Standardverfahren.

Aber jetzt? Ich bin im Schlafanzug und gehe ins Bett. Mein Mann schläft seit einer halben Stunde. Ich schleiche mich neben ihn und weiß nicht, was ich tun soll. Dem Streit zuzuhören, so tun, als ob nichts passiert? Friedlich schlafen?! Geht es mich etwas an?

Irgendwie sehe ich mich nicht in der Lage, meine Augen zu schließen, und mein Herz schlägt etwas schneller als es sollte. Wenn ich jedoch darüber nachdenke, habe ich ihre Stimme überhaupt nicht gehört. Sie redet normalerweise sehr langsam, kaum zu verstehen. Sie verliert nicht die Beherrschung, wenn sie miteinander kontrovers werden, nur der Junge ist derjenige, der schreit. Aber ich habe heute kein Flüstern von ihr gehört, ein Flüstern hätte ich vielleicht hören sollen. Ich bin mir nicht mehr sicher, wie die Situation ist.

Plötzlich verliert er die Kontrolle, schreit, jammert, weint unter Tränen, stöhnt.

Nein, etwas ist nicht normal! Irgendwas stimmt nicht, denke ich.

Es ist offensichtlich nicht einer der üblichen Streitigkeiten. Irgendwas stimmt nicht. Grundsätzlich falsch. Ich bin mir sicher, dass ihre Stimme überhaupt nicht gehört wird. Es ist sicher, dass er allein zu Hause ist. Ich nähere mich der Wand und höre zu. Mir wird klar, dass er mit seiner Mutter telefoniert und meinen Verdacht bestätigt. Die Frau arbeitet nachts.
"Komm schon, lass die Seifenopern, Weib!", sagt mir mein Mann, als er sich auf die andere Seite dreht.

Aber ich warte dort, sitzend auf dem kalten Boden, die Arme um die Knie geschlungen, um zu entscheiden, ob ich eingreifen soll. Hilferuf? Soll ich die Polizei rufen? Wo soll ich anrufen? Was ist zu tun? Diese Qual jenseits der Mauer...! Der Junge scheint den Verstand verloren zu haben.

Ich höre ihn schreien: "Mama, komm zurück! Bitte komm zurück! Mama, wo bist du?!"

Laut schreiend, herzzerreißend. Sie muss ihn gefragt haben, warum er weint, weil er zurückgeschrien hat: "Weil ich so traurig bin! Weil ich so schrecklich traurig bin!"

Unzufrieden mit ihrer Antwort am Telefon rief er: "Ich bin ein Waise in Deutschland! Ein Waise in Deutschland! Ein schwarzer in Deutschland!"

Er stieß einen schrecklichen Schrei aus, wütend auf das, was die Frau am Telefon sagte, und er brach aus wie ein Verrückter: "Fick dich, fick dich! Fick dich!".

Dann Stille.

Ich sitze weiter still im Dunkeln, mit meinen Knien in meinen Armen. Jetzt, wo es ruhig ist, kann ich wirklich nichts mehr tun. Aber ich bleibe wach. Ich bin sehr verwirrt, weil ich mich nicht entscheiden kann, was beängstigender ist: der Streit vorher oder die Stille jetzt?

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